Das eine Kohlenmonoxid Giftgaspipeline ein Risiko für die Bürger darstellt, durch deren Wohnquartiere eine solche Leitung verläuft, ist – soweit ich das sehe – allgemein anerkannt: vom Bayer-Konzern, von der Bezirksregierung, von der Landesregierung, die Gewerkschaften werden das sicher ebenfalls so sehen, die MitarbeiterInnen in den Bayer Chemieparks sind wahrscheinlich sogar besonders sensibilisiert, zumal wenn sie zu denen gehören, die mit dem Gift zu tun haben.
Letztere gehen sogar freiwillig das Risiko ein, ihre Gesundheit, sogar ihr Leben beim tagtäglichen Umgang mit dem Giftgas zu gefährden.
Gefährdet werden natürlich auch diejenigen sein, die nach den Plänen unserer Landesregierung NRW demnächst in 1000, 100 oder gar nur 50 Meter Entfernung entlang der 70 km langen CO Giftgasleitungstrasse zwischen Dormagen und Krefeld leben müssen.
Nur, müssen wir als BürgerInnen ein solches Lebensrisiko genau so akzeptieren, wie MitarbeiterInnen des Bayer Konzerns, deren Aufgabe es ist, aus CO, Chlor und Ölderivaten Kunststoffe herzustellen? Bayer MitarbeiterInnen, die einen Job machen, den sie erlernt haben, dessen Risiken sie kennen und akzeptieren? Die, die sich in einer Werksumgebung bewegen, in der man sich seit vielen Generationen mit Werkssicherheit beschäftigt, wo Gewerkschaften maximale Sicherheit einfordern und, wenn’s drauf ankommt, auch gegen die Konzernleitung durchsetzen und kontrollieren?
In unserer Gesellschaft wird keiner (mehr) gezwungen bei Bayer zu arbeiten und sich den Gefahren eines Chemieunfalls auszusetzen. Wir können also unterstellen, dass diese MitarbeiterInnen das Risiko individuell für sich akzeptieren. Sie fühlen sich geschult und sicher genug, um mit diesen Gefahren sicher umgehen zu können. Auch eine gute Bezahlung wird die Akzeptanz positiv beeinflussen.
Innerhalb des Werkszauns zahlt der Konzern also eine nicht unerhebliche Risikoprämie in Gestalt von zahllosen Warngeräten, guter Aus- und Weiterbildung, finanziellen Risikozuschlägen und Weiterentwicklung Jahrzehnte alten Know-hows im Risikomanagement, in enger Zusammenarbeit mit den betroffenen MitarbeiterInnen und den involvierten Gewerkschaften vor Ort. Alles mit dem Ziel, das individuelle Risiko auf ein Niveau herunter zu bekommen, auf dem man genügend hoch qualifizierte MitarbeiterInnen für den reibungslosen Betrieb angeheuert bekommt.
Doch ist es legitim solche Lebensrisiken an das Kollektiv außerhalb der Werksgelände herauszureichen, ohne Einverständnis jedes einzelnen Betroffenen, ohne eine angemessene „Risikoprämie“ – wie immer die auch aussehen mag?
Sicher nicht für lau, und das weiß auch Bayer, aber ein Produkt wie CO per Pipeline 70 km längs durchs Rheinland zu schicken wäre bei den unter diesen Umständen fälligen „Risikoprämien“ schlicht unbezahlbar.
Also muss Bayer weg von den individuellen Risiken. Das Risiko einer Giftgaspipeline außerhalb des Werksgeländes muss zu einem öffentlichen Risiko umgewidmet werden, im Sinne von „das muss die Allgemeinheit tragen“.
Aber „öffentliches Todesrisiko“? Wäre das nicht so wie in einem von Terroristen gekaperten Flugzeug zu sitzen, und der Innenminister/ Verteidigungsminister/ Bundeskanzler schickt Eurofighter, um die Maschine abzuschießen, bevor sie vielleicht!!! in ein Hochhaus gesteuert werden könnte? Einige – hier die Flugbesatzung und -passagiere - müssen leider getötet werden, damit die potentielle Bedrohung von den in Hochhäusern wohnenden Menschen abgewendet werden kann? Menschen in Hochhäusern sind mehr wert als Menschen in Flugzeugen?
Das Bundesverfassungsgericht verwarf 2006 den § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG), der die Bundeswehr ermächtigte, Luftfahrzeuge, die als Tatwaffe gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden sollen, abzuschießen, als mit dem Grundgesetz unvereinbar. Es handelt sich um einen Verstoß gegen die Menschenwürde und ist damit nichtig.
Quelle: PM des BVerfG vom 15.2.2006
Wir, die von der Giftgaspipeline bedrohten Menschen, sind in der gleichen Position wie die Passagiere in einem Flugzeug, in dem die Terroristen schon Platz genommen haben. Oder? Sind wir vielleicht schon einen Schritt weiter? Zum Abschuss bereits freigegeben?
Wir werden wissentlich geopfert. Nicht erst wenn die Pipeline platzt, sondern jetzt. Gesellschaftlich sitzen wir fortan im Flieger, der bereits von den Terroristen gekapert und von Staatswegen zum Abschuss freigegeben wurde. Zum Wohle der Allgemeinheit? NRWs? Deutschlands? Damit die "Bewohner der Hochhäuser" in der Bayer Produktion unbehellig bleiben? Damit sie weiter kostengünstig CO und Chlor in Phosgen wandeln? Damit am Ende mindestens 10% Rendite für die Bayer Aktionäre herauskommt - pro Jahr? Damit man die Kunststoffproduktion für einen Investor attraktiver machen kann (Konsequenzen für die Betriebssicherheit, siehe hier)? Damit der Chemiestandort NRW im Wettbewerb gegen diktatorisch geprägte Wirtschaftskonkurrenten leichteres Spiel hat?
Was ist eigentlich mit unseren Politikern los, die solchen Argumenten „erliegen“? Machen sie sich jetzt daran, unsere Demokratie der Globalisierung zu opfern? Sind unsere Verfassungsgrundsätze lediglich verstellbare Variable, abhängig von den Wachstumsraten unseres Sozialproduktes oder den Anforderungen eines Bayer Konzerns? Erhöhen wir jetzt die kollektive Opferbereitschaft unseres Volkes, um mit den Chinesen besser mithalten zu können? Etwas weniger Menschenrechte gegen verbesserte Wettbewerbsfähigkeit? Pobieren geht über studieren, mal schauen was draus wird?
Jacques Cousteau, einer der großen (Ozean) Forscher des vergangenen Jahrhunderts hat in seinem intellektuellen Vermächtnis diese Spiel mit dem öffentlichen Risiko entlarvt:
Die Politiker „führen uns nicht durch ernsthaft kalkulierte Wagnisse, deren Gefahren vorher identifiziert und eliminiert wurden. Stattdessen treiben sie uns vor sich her wie eine Herde Schafe, hinein in eine Art Russisches Roulette. Sie weisen uns an, den Abzug am Revolver der Technologie zu betätigen, ohne uns zu sagen, ob die Waffe geladen ist. Das ist kein Führertum. Das ist keine Demokratie. Das ist die Diktatur der Technokraten. Das ist die Diktatur des Marktes“ (Jacques Cousteau, Susan Schiefelbein: „Der Mensch, die Orchidee und der Oktopus“, Campus Verlag 2008, S. 126).